Der 49 Jahre alte Kläger bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und wohnte im Zeitpunkt der Antragstellung Anfang 2020 mietfrei bei seinen Eltern in deren Wohnung. Im Februar 2021 stellte der Kläger gegenüber dem beklagten Jobcenter einen Antrag auf Zusicherung zum geplanten Umzug (ein unterzeichneter Wohnungsmietvertrag lag vor). Das Jobcenter lehnte die Zusicherung und damit die Übernahme der Mietkosten ab und begründete dies damit, dass der Grund des Klägers „es gäbe ständig Streit mit den Eltern“ keinen wichtigen Grund für einen Aus- bzw. Umzug aus der mietfreien Wohnung darstelle.
Die 3. Kammer des Sozialgerichts Reutlingen hat mit Gerichtsbescheid vom 9. August 2021 das Jobcenter Reutlingen verpflichtet, die Zusicherung zur Übernahme der Umzugs- und Mietkosten zu erteilen. Ob ein Umzug erforderlich sei, bestimme sich danach, ob ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund vorliege, von dem sich auch ein Nichtleistungsberechtigter hätte leiten lassen und der auf andere Weise nicht beseitigt werden könne, so das Gericht in seiner Urteilsbegründung. Bei mindestens 25-jährigen Leistungsbeziehern sei allein das Alter in der Regel hinreichender Grund im Sinne des § 22 Abs. 1 und Abs. 6 SGB II, um aus der Wohnung der Eltern auszuziehen. Nach Auffassung der Kammer müsse es nach Überschreiten von 25 Lebensjahren auch aus verfassungsrechtlichen Erwägungen der Freizügigkeit (Artikel 11 Grundgesetz) und der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Grundgesetz) heraus gestattet sein, das Elternhaus ohne weitere Begründung zu verlassen. Da der Kläger die übrigen Voraussetzungen (z.B. Angemessenheitsgrenze bei der neuen Wohnung) eingehalten hatte, hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben.
Gerichtsbescheid vom 09.08.2021 (Az S 3 AS 1494/21 – noch nicht rechtskräftig –)
Hinweis zur Rechtslage:
§ 22 Abs. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB
II): Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese
angemessen sind. Erhöhen sich nach einem nicht erforderlichen Umzug die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, wird nur der
bisherige Bedarf anerkannt. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen
Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf so lange anzuerkennen, wie es der oder dem alleinstehenden Leistungsberechtigten oder der
Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die
Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Eine Absenkung der nach Satz 1 unangemessenen
Aufwendungen muss nicht gefordert werden, wenn diese unter Berücksichtigung der bei einem Wohnungswechsel zu erbringenden Leistungen
unwirtschaftlich wäre.
§22 Abs. 6: Wohnungsbeschaffungskosten und Umzugskosten können bei
vorheriger Zusicherung durch den bis zum Umzug örtlich zuständigen kommunalen Träger als Bedarf anerkannt werden;
Aufwendungen für eine Mietkaution und für den Erwerb von Genossenschaftsanteilen können bei vorheriger Zusicherung durch den
am Ort der neuen Unterkunft zuständigen kommunalen Träger als Bedarf anerkannt werden. Die Zusicherung soll erteilt werden, wenn
der Umzug durch den kommunalen Träger veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist und wenn ohne die Zusicherung eine
Unterkunft in einem angemessenen Zeitraum nicht gefunden werden kann. Aufwendungen für eine Mietkaution und für
Genossenschaftsanteile sollen als Darlehen erbracht werden.
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Raphael Deutscher
Richter am Sozialgericht
Tel. 07121/940-3333
Vertreter: Holger Grumann
Vizepräsident des Sozialgerichts
Tel. 07121/940-3319
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